Vor 75 Jahren: Wie siebenbürgisch-sächsische Deportierte den Christtag im Donbass begingen

Deportierte aus Nußbach im Lager Nikanor, Sommer 1949.

Rund 70.000 rumänische Staatsbürger deutscher Volkszugehörigkeit, darunter 30.000 Siebenbürger Sachsen, wurden ab dem 13. Januar 1945 in die Arbeitslager der Bergwerkregionen im Donezbecken, des Ural und Westsibiriens verschleppt, wovon etwa 12% dem Hunger- und Erschöpfungstod zum Opfer fielen. Aus Brenndorf wurden 278 Sachsen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion ausgehoben, 40 Todesopfer waren zu beklagen. Verschleppt wurden auch 148 arbeitsfähige Sachsen aus der Gemeinde Nußbach, in der damals rund 800 Deutsche lebten. 16 davon kamen nie wieder und blieben in fremder Erde zurück. Altraut Anna Zelgy, geborene Olesch (1924-2019), mütterlicherseits aus Brenndorf stammend, erinnert sich im folgenden Artikel, der erstmals im „Nußblatt“ Nr. 18/2005, veröffentlicht wurde, an die entbehrungsreiche Zeit in der Deportation und den Christtag 1945 im Donbass in der Ukraine.

 

Der 23. August 1944 ist einer der schwärzesten Tage in der mehr als 850-jährigen Geschichte der Siebenbürger Sachsen. An diesem denkwürdigen Tag wechselte Rumänien im 2. Weltkrieg die Fronten und wurde von einem Verbündeten Deutschlands zu dessen Gegner.

Dieses Ereignis hatte schwerwiegende Folgen für uns Sachsen, Folgen deren Auswirkungen letzten Endes für viele von uns dazu beitrugen, die alte Heimat zu verlassen, um sich hier in Deutschland ein neues Leben aufzubauen.

Aber trotz dieses tiefen Einschnittes in unser Dasein – das Leben musste weiter gehen. Mit Mühe und Not brachten die Leute ihre Ernte ein, und die Arbeit half so allen über diese finsteren Tage hinweg. Der Durchzug der Kriegsgefangenen und die Durchmärsche der russischen Truppen mit Zwangs – Einquartierungen in der Schule und in Privathäusern ließ allmählich nach, der Herbst kam und verging, der Winter brach an, Weihnachten nahte. Das Jahr 1944 neigte sich seinem Ende zu und es begann ein neues Jahr. Voller Sorgen blickten wir in die Zukunft, uns fürchtend, was uns dieses neue Jahr wohl an Veränderungen bringen würde.

Am 13. Januar 1945 wussten wir es dann. An diesem Tag wurden die noch zu Hause verbliebenen arbeitsfähigen Frauen und Männer – unter ihnen auch ich – ausgehoben, im Schulsaal gesammelt, nach Kronstadt geschafft und in ungeheizte Viehwaggons verladen. Lange Güterzüge rollten mit Sachsen und Banater Schwaben beladen durch die eisig kalten Wintertage Russland zu.

Ende Januar kamen wir am Bestimmungsort an. Es war das Kohlegebiet im Donezbecken in der Sowjetunion. Unterkunft fanden wir in verfallenen, schmutzigen, verwanzten Baracken, mit zerbrochenen Türen und Fensterscheiben, aber fürsorglich von zwei Reihen Stacheldrahtzäunen umgeben, mit von bewaffneten Soldaten besetzten Wachtürmen an den Ecken, die unsere Flucht verhindern sollten. Mit Wassersuppen – ganz wenig schwarzem Brot – mit Frost und vielen Entbehrungen mussten wir uns an das neue primitive Leben gewöhnen.

Jeder einzelne Tag brachte uns andere Erlebnisse. So verging schließlich ein Jahr und Christtag 1945 stand vor der Tür. Mit den düsteren, nebligen und feuchtkalten Herbsttagen wuchsen unser Heimweh und die Sehnsucht nach unseren Lieben sowie nach geordneten, normalen Verhältnissen, wie einstmals zu Hause, ins Unermessliche.

Da unter der Diktatur Stalins das Weihnachtsfest als kirchlicher Feiertag verboten war und nicht gefeiert werden durfte, und da die alten Russen die es im Verborgenen nach ihrem orthodoxen Kalender doch taten – allerdings erst Anfang Januar – wussten die jungen russischen Soldaten, die uns bewachten, nichts über den Heiligen Abend. Uns aber war es ein tiefes Herzensbedürfnis an diesem Abend, nach gutem altem sächsischem Brauch, wenigstens das Weihnachtsevangelium zu hören und die altvertrauten Lieder – allen voran „stille Nacht, heilige Nacht“ – erklingen zu lassen. Schon im Advent sangen wir oft an den langen dunklen Abenden die heimatlichen Weihnachtslieder und bereiteten uns so auf das Fest vor. Die Russen freuten sich zwar, wenn wir sangen, doch meinten sie, die Melodien unserer Lieder seien zu traurig, wir sollten doch lieber frohere Lieder singen. Ein Glück, dass sie den Text nicht verstehen konnten, und daher nicht mitbekamen, was wir sangen.

Da unser Lager in der weiten und kahlen Steppe stand, wo es weit und breit keinen Wald gab, war unsere größte Sorge, wie und woher wir zu einem kleinen Bäumchen kommen könnten. Auf dem Weg zur Arbeit fielen uns eines Tages die mit Raureif bedeckten hohen trocknen Distelstauden in die Augen, die aufgeputzten Tannenbäumchen glichen. Wir beschlossen, so eine Distel als „Christbaumersatz“ in unserer Baracke aufzustellen. Wir suchten ein schönes und regelmäßiges „Bäumchen“ aus, schnitten es ab und auf dem Heimweg, nach der Arbeit, brachten wir es am Heiligen Abend ins Lager mit.

Als uns am Lagereingang der Wächter aufhielt und fragte „saschto“ (wofür) wir so ein Unkraut bräuchten, antworteten wir, dass wir uns daraus einen Besen binden wollten. Er gabsichmitdieserAntwortzufriedenundsogelangteder „Distelstängel“ in unsere Unterkunft, um uns als Weihnachtsbäumchen bei unserer Andacht an zu Hause zu erinnern.

Rasch machten wir uns sauber, zogen uns so gut wie möglich „schön“ an und eilten zum abgelegensten Raum unserer Baracke, stellten unser Bäumchen auf und begannen, es zu schmücken. Aus unseren „fufaikas“ (Wattejacken) zupften wir etwas weiße Watte heraus, und mit weißen Baumwollfäden sowie mit hier wachsenden, noch im Herbst gesammelten Steppenstrohblumen, putzten wir es auf – so gut es eben mit unseren bescheidenen Zutaten ging.

Emmi Reiss, geborene Kreisel (rechts), und Altraut Anna Zelgy, geborene Olesch, im Lager 1208 Nikanor.

Nach dem üblichen abendlichen Kontrollrundgang des russischen Barackenchefs versammelten wir uns zu unserer Weihnachtsfeier im Raum, wo das Bäumchen stand. Dazu hatten wir auch unseren „Lagerleidensgenossen“ Herrn Pfarrer Otto Reich eingeladen, der sich dann abends verbotenerweise, im Schutze der Dunkelheit, heimlich in unsere Frauenbaracke schlich. Als er den Raum betrat, war er sehr erstaunt und angenehm überrascht, dass es uns gelungen war trotz Elend, Armut, Not und fern der ach so schönen und geliebten Heimat diesen Heiligen Abend solcher Art vorzubereiten, sogar mit einem „geschmückten Weihnachtsbaum“. Ein einziges Kerzlein, welches ich in meinem Gepäck noch vom letzten Christtag zu Hause dabei hatte und herschenkte, wurde angezündet. Unsere Augen begannen sich mit Tränen zu füllen und überzufließen. Zum Glück stimmte aber Herr Pfarrer Reich das Lied „Vom Himmel hoch ...“ an, eine nach der anderen fiel in den Gesang ein, und statt zu weinen, sangen wir ergriffen mit. Es wurden noch zwei oder drei Christlieder gesungen und dann hielt Herr Pfarrer Reich eine kleine tröstende Ansprache, die uns aufrichtete. Danach trug ich aus der Erinnerung das Weihnachtsevangelium vor. Wir falteten die Hände und gemeinsam beteten wir mit lauter Stimme „Vater unser...“.

So getröstet und gestärkt konnten wir zum Abschluss dann doch auch noch das Lied „Oh du fröhliche...“ singen, ohne zu weinen, wenn auch mit vor Heimweh wunden Herzen und der schweren Last und Angst vor einer ungewissen Zukunft im Gemüt. Mit den Worten der Bibel: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“, (Joh. 3.Vers 16) wurde unsere Weihnachtsfeier beendet.

Blitzschnell schlichen alle in ihre Zimmer, und seelisch gestärkt kroch eine jede von uns auf die harte Pritsche zum engen Schlafplatz, legte sich hin und ließ die Gedanken in die weite, weite Ferne wandern, hin zur Heimat, zur Familie, zu seinen Lieben, die daheim waren, vielleicht aber auch in der Kriegsgefangenschaft oder in anderen Lagern weilten, oder schon in fremder Erde ruhten.

Schließlich kam dann aber doch ein gutes Sandmännchen vorbei, streute seinen Sand aus und wir schliefen ein, froh und dankbar darüber, dass uns unsere russischen Bewacher nicht entdeckt hatten und dass wir so einen wundervollen, inhaltsreichen Heiligen Abend, fern der lieben Heimat feiern durften. Der nächste Tag – es war ja der erste Christtag – war für uns dann wieder ein ganz gewöhnlicher normaler Arbeitstag.

Seit diesem Weihnachtsfest im fernen Donbass sind zwar genau 60 Jahre vergangen – aber die Erinnerung daran wurzelt noch immer lebendig und unvergessbar tief in meiner Seele.

Altraut Zelgy (geb. Olesch)

Deportierte aus Brenndorf im Lager Makeewka.

Erste Reihe von links nach rechts: Emmi Klein (274), Hanni Promer (219), Erna Fiddes geb. Kloos (246), Hans Stamm (83), Ottilie Klöss geb. Schuster (22), Hilde Rhein geb. Brenndörfer (268); zweite Reihe v.l.n.r.: Rosi Birk geb. Tontsch (199), Martin Schuster (74), Rosi Olesch geb. Stütz (7), Georg Teutsch (265), Emmi Töttels geb. Tontsch (166), Fritz Reiss (13), Hilda Borbas geb. Schuster (275); dritte Reihe v.l.n.r.: Hans Darabas jun. (269), Hans Graef (32), Olga Knopf geb. Daniel (27), Emmi Rhein (680), Emil Kuzi (269), Klara Miess (243), Hans Stamm (76), Klara Olesch geb. Zerbes (249) und Ernst Rothenbächer (160).