Weihnachten 2019 – dreißig Jahre in Freiheit

„Habe ich dir nicht geboten: Sei getrost und unverzagt? Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst“. (Josua 1,9)

 

Aus der Geschichte der Kriegs- und Nachkriegsjahre haben wir gelernt, wie wichtig es ist, Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen, so lange sie leben. Mit bewegenden Bekenntnissen sind sie lebendige Mahnungen gegen das Vergessen.

In diesem Herbst wurden wir hierzulande zum Teil sehr intensiv an den Herbst 1989 erinnert, mit dem der Auftakt zum europaweiten Fall des Eisernen Vorhangs vor 30 Jahren begann. Bilder vom 3. Oktober 1989 waren wieder präsent (es lohnt sich, noch einmal die Tagesschau von diesem Tag zu verfolgen), dann Bilder vom 9. November 1989, und immer wieder stand die Frage nach Zeitzeugen im Raum, so, als sollten wir alle nicht vergessen, was damals geschehen war: „Erinnerst du dich noch? Wo warst du, was hast du gemacht, als die Nachricht vom Mauerfall dich erreichte?“

Diese Frage möchte ich aufgreifen und sie einmal an Sie weitergeben: Ich muss gestehen, ich habe die Tragweite jener Ereignisse in den Novembertagen nicht ganz erfasst; wir standen ja in Siebenbürgen noch unter Beobachtung und unter Nachrichtensperre. Dafür war dann die Verarbeitung der Weihnachtstage 1989 umso intensiver. Das letzte Bollwerk des Eisernen Vorhangs war mit hohem Blutzoll gefallen. Die Weihnachtstage gestalteten sich im Burzenland und in der Hauptstadt ziemlich chaotisch; erst im Nachhinein ist uns so richtig aufgegangen, welchen Gefahren wir in jenen Tagen ausgesetzt waren.

So mag nun ganz konkret die Frage im Raum stehen: Erinnern Sie sich noch an Weihnachten 1989? Wo waren Sie, was haben Sie gemacht, als die Nachricht vom Sturz der Diktatur Gewissheit wurde und das Land sich öffnete? (Auch hier lohnt es sich, die Tagesschau vom 24. und 25. Dezember 1989 zu verfolgen).

Ich stelle mir vor, dass die Antworten und Reaktionen zum Teil zwiespältig sind. Bis heute hängt unseren Erinnerungen ein bitterer Nachgeschmack an. Was hat die „Wende“ gebracht? Sicherlich ganz viel Positives. Für viele zum ersten Mal das Gefühl, Freiheit auskosten zu können. Aber vieles wurde nicht aufgearbeitet. Das Nachdenken über den Verlust der Heimat haben wir größtenteils verdrängt; und den rauen Wind, der zurzeit im sozialpolitischen Umfeld in der neuen Heimat bläst, empfinden manche als ungesund. Die sozialen Netzwerke verkommen zu Hassplattformen, die Kultur des Miteinanders verroht; Politik wird nicht nur jenseits des großen Teiches größtenteils über Twitter gemacht.

Manchmal muss ich an Worte von MiklósNémeth denken: Im Mai 1989 hat er als damaliger Ministerpräsident Ungarns mit dafür gesorgt, dass der Stacheldraht an der Grenze zu Österreich abgebaut wurde. Jüngst sagte er in einem Interview: „Wenn Sie das Denken und die Mentalität von Menschen ändern müssen oder wollen, brauchen Sie dafür mindestens sechs Jahrzehnte. Wir sind erst in der Mitte dieser Zeitspanne angelangt. Wir haben uns gerade daran gewöhnt, wie es in den Niederungen der Demokratie aussieht. Da gibt es Höhen und Tiefen.“

30 Jahre Freiheit – so gesehen: Bilanz zur Halbzeit.

Auch das Volk Israel befindet sich zur Halbzeit noch im Aufbruch. Den beschwerlichen Weg durch die Wüste haben sie hinter sich, den Rest noch vor sich: Landnahme, ankommen, sesshaft werden, arbeiten, leben, sich auseinandersetzen mit einer fremden Religion – wie wird es sein? Ich finde es bezeichnend, dass Gott dem Josua in der Erzählung in Josua 1 gleich drei Mal Mut macht: „Sei getrost und ganz unverzagt.“

Darin schwingt ein Stück Leichtigkeit und die liebevolle Einladung zum Vertrauen mit. So hart und ernüchternd unser Alltag manchmal auch sein mag: „Sei getrost und unverzagt.“ Wenn man so will:  Für jedes der drei noch bevorstehenden Jahrzehnte einmal mehr: „Sei getrost und unverzagt.“ Diese Zuversicht wünsche ich uns – über Weihnachten hinaus.

Hart und ernüchternd ist der Alltag auch für Maria und Josef auf ihrer Wanderung nach Bethlehem. Ein Alltag, geprägt von den Feindseligkeiten einer Gewaltherrschaft, die den kleinen Mann durch das Kaiserreich scheucht und an die Wand drückt. Und eine Geburt, die auch dem kleinsten Funken menschlicher Würde Hohn spricht. Aber mit Maria und Josef und dem Kind geht die Zusage Gottes: „Ich bin bei euch.“

Ob das auch eine Zusage für uns ist? Es lässt sich wahrlich nicht leugnen, dass Gott in den letzten Jahrzehnten an unserer Seite war – trotz allem. Warum sollte er das nicht auch in Zukunft sein?

In diesem Sinne: Ihnen ein frohes und ein gesegnetes Weihnachtsfest.

Pfarrer Helmut Kramer