Heimat wiederfinden, Neues wagen: Predigt von Pfarrer Helmut Kramer

Pfarrer Helmut Kramer hielt den Festgottesdienst am 29. September in Brackenheim. Foto: Petra Reiner

Den 13. Nachbarschaftstag der Brenndörfer am 29. September 2018 in Brackenheim eröffnete Pfarrer Helmut Kramer mit einem Gottesdienst. In seiner Predigt zeigte er anhand des Liedes 395 aus dem evangelischen Gesangbuch auf, wie man ein Stück Heimat wiederfinden und in neue Wege vertrauen kann, „die der Herr uns weist“. Die Predigt wird im Folgenden im Wortlaut wiedergegeben.

 

In diesem Jahr feiert Brenndorf 650 Jahre seit der ersten urkundlichen Erwähnung, die unter den historischen Zeugnissen des Ortes erhalten ist. Dass die Entstehung des Ortes mit der Ansiedlung des deutschen Ritterordens im Burzenland unmittelbar zusammenhängt und bereits ins Ende des 12. Jahrhunderts datiert werden kann, lässt sich aus anderen historischen Quellen der Zeit schließen. Aber 650 Jahre dokumentierte wechselvolle Geschichte von Menschen, die im Pioniergeist ausgezogen waren, um Land zu erschließen und urbar zu machen; Grenzen zu verteidigen; und im gemeinsamen Bemühen für gemeinsame Rechte und Freiheiten einzustehen – das ist etwas Besonderes.

In einer denkwürdigen Festveranstaltung beim Heimattreffen am 4. und 5. August dieses Jahres in Brenndorf wurde dieses Jubiläums gedacht und im Festvortrag wurden Arbeit, Fleiß und Beharrlichkeit der Menschen gewürdigt, deren Schulwesen, Nachbarschaften, und nicht zuletzt deren demokratische Gemeindeverfassung und auch Geschlossenheit in kirchlichen Strukturen vorbildlich waren für die Entwicklung der Moderne.

„Gemeinsames Bemühen, Gemeinschaft aufrechtzuerhalten“ – so könnte man das Motto des Brenndörfer Treffens aus dem August umschreiben. So hatte das auch Bürgermeister Sergiu Arsene betont und so spiegelte sich das auch in der Predigt wieder in dem Wort aus dem Buche des Propheten Jeremia (29,7), das Pfarrer Dr. Peter Klein im Festgottesdienst entfaltete: „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum HERRN; denn wenn‘s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl.“

„Mithelfen, dass unser Heimatort Brenndorf weiter gedeiht“, war denn auch eine Teilantwort auf die Frage: „Was ist Heimat“? An dieser Stelle möchte auch ich einen herzlichen Dank aussprechen allen, die, in welcher Form auch immer, etwas dazu beigetragen haben, dass dieses Motto weitergetragen werden kann. Die umfangreiche Renovierung der Kirche seit 2013; die Unterstützung der Gemeinschaft und der evangelischen Kirchengemeinde in Brenndorf; die vielen kleinen und großen Zeichen der Verbundenheit der letzten Jahre machen Mut, auch in der kommenden Zeit der Geschichte von Brenndorf in würdigem Rahmen zu gedenken.

Für viele hat dieses Gedenken allerdings auch einen Wermutstropfen. Wir sind weit weg von der ehemaligen Heimat und werden doch immer wieder von der Frage umtrieben: „Was ist Heimat?“ Ich will versuchen, an der Antwort weiterzudenken, die Herr Siegbert Bruss in seinem Festvortrag gegeben hat: „Wir stehen heute hier und verneigen uns vor unseren Vorfahren, vor unseren Eltern, den Mitmenschen, der Kirche, den Straßen und Häusern, die unser Leben geprägt haben. Was ist Heimat, fragen wir uns. Was ist aus dem geworden, was fleißige Menschenhand hier über Jahrhunderte aufgebaut hat? Unsere Gedanken schweifen und finden einen Halt: Die Heimat sind wir selbst, Heimat sind die vielen Menschen, die uns auf unserem Lebensweg begleitet haben.“

Ja, liebe Gemeinde, was ist Heimat in dem Umfeld, in dem jeder sein eigenes Zuhause suchen musste und mittlerweile hoffentlich auch gefunden hat? Was ist Heimat in einem Kontext, wo die tragenden Säulen der ehemaligen Gemeinschaft bestenfalls alle drei Jahre nachempfunden werden, bei den Zusammenkünften wie heute? Was bedeutet Heimat für den Einzelnen, der sich im Alltag auf sich selbst gestellt sieht?

Ich lade Sie ein, dass wir der Frage anhand eines Liedtextes nachgehen, den wir eben gesungen haben. Das Lied, das wir im Gesangbuch unter der Nummer 395 vorliegen haben, hat einen ganz eigenen Entstehungshintergrund:

Man schreibt den 4. August 1989. Etwa 100 Menschen versammeln sich vor der Annenkirche in Eisenach. Ein junges Paar traut sich auf den Weg in die gemeinsame Zukunft.

Gefeiert wird diese Hochzeit nicht nur mit der üblichen Zeremonie auf dem Standesamt, sondern mit einem Gottesdienst – was zu DDR-Zeiten nicht unbedingt üblich war. Der Jenaer Theologieprofessor Klaus Peter Hertzsch, ein Freund der Familie, hat sich eine besondere Überraschung für das Paar ausgedacht. Sein Geschenk braucht keine hübsche Verpackung; es liegt bereits auf den Bänken der Kirche. Ein kleiner Zettel, darauf ein paar Worte und Noten: „Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist, weil Leben heißt sich regen, weil Leben wandern heißt.“

Es sind Worte geschrieben für zwei Menschen, die sich lieben und die den Mut haben, miteinander aufzubrechen. Die etwas Neues beginnen wollen, viele Pläne haben, Lust auf Unbekanntes und immer wieder Freude aneinander, Freude miteinander. Aber eben auch Fragen: „Wird es gelingen, Monate, Jahre beieinander zu bleiben? Was für Hürden werden wir nehmen müssen? Beruflich, familiär?“

Die Predigt, die das junge Paar in ihrem Traugottesdienst hört, handelt von Abraham und Sara. Denn die hatten sich vor geschätzten mehr als 3000 Jahren auch auf einen neuen Weg gewagt. Sie verlassen ihre Heimat, weil Gott eine neue Aufgabe für sie hat. Doch Gott lässt die beiden an diesem Wendepunkt ihres Lebens nicht ohne Wegzehrung, nicht ohne ein großes Versprechen: „Ich will euch segnen und ihr sollt ein Segen sein.“ Und das trägt sie durch die Jahre der Unsicherheit und Einsamkeit, bis sie dort ankommen und sich das erfüllt, was Gott vorausgesagt und bestimmt hat.

Es ist Sommer 1989, als die Worte des Liedes entstanden sind. Ein Hochzeitslied, zumindest damals am 4. August 1989, als es zum ersten Mal gesungen wird. Aufbrechen, ausziehen, loswandern – davon erzählt der Text, und sein Dichter, der Theologieprofessor Klaus Peter Hertzsch, hätte wohl nicht gedacht, dass das Lied selbst sich schon bald in solch atemberaubender Weise auf die Reise begeben würde.

Denn die Menschen nehmen den Liedzettel von der Hochzeit mit nach Hause, mit in ihre Kirchengemeinden, mit auf die Friedensgebete, die in dem heißen Herbst 1989 überall abgehalten werden. Die friedlichen Proteste gegen das Regime werden immer heftiger…

Wochen später singt Klaus Peter Hertzsch das Lied in seiner Heimatstadt in Jena in einem ökumenischen Abendgottesdienst. Inzwischen ist die Mauer gefallen, die Grenzen sind offen. Am Buß- und Bettag versammeln sich evangelische und katholische Christen und singen: „Vertraut den neuen Wegen.“ Viele sind tief bewegt. Denn dieses Lied beschreibt mit wenigen Worten, was die Menschen in diesen unruhigen und aufwühlenden Wochen fühlten, was ihr Herz bewegte.

Klaus Peter Hertzsch – als Studenten hatten wir in Hermannstadt die Ehre, ihn im Jahre 1981 bei einem Gastaufenthalt im Theologischen Institut zu erleben. Sehr stark sehbeeinträchtigt, stellte er sich damals innerlich darauf ein, irgendwann einmal nicht mehr lesen zu können. Seine geballte und bilderreiche Sprache faszinierte (vielleicht kennt jemand seine biblische Ballade „Wie schön war die Stadt Ninive“). Was Wunder, wenn die Worte aus dem Lied die Menschen beeindruckten: „Gott selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land. Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit. Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.“

So geht im November 1989 ein Lied auf Wanderschaft und sozusagen in letzter Minute, bereits nach Redaktionsschluss, erfährt auch die Gesangbuchkommission der Evangelischen Kirche in Deutschland von dem Lied und nimmt es als allerletztes in das neue Gesangbuch auf.

Seither wird es in der Evangelischen Kirche gesungen und immer wieder sind es die Worte, die ans Herz gehen, die Hoffnung und Zuversicht versprechen. Denn das Leben verschont uns nicht mit Aufbrüchen. Leben heißt wandern, weitergehen, Neues wagen: Eine Ehe, das erste Kind, eine neue Chefin, der Tod eines Freundes, der Auszug der Kinder, 60 Jahre alt werden, 70 Jahre alt werden, ein Umzug in eine fremde Stadt, eine Trennung, die weh tut. Ein Abschied von heimatlichen Gefilden mit Langzeitwirkung.

Leben heißt wandern, weitergehen, Neues wagen. Leben heißt vertrauen – selbst und gerade auch da, wo Vertrauen in unserer Zeit zum Wegwerfartikel und zur Ramschware verkommen ist. Leben heißt, ein Stück Heimat wiederfinden aus solcher Zuversicht, dass diese Worte auch uns gelten: „Gott will, dass ihr ein Segen für seine Erde seid.“ Da kann es dann vorkommen, dass jemand dieses Lied nach einer tiefen Verlusterfahrung wünscht, um wieder Mut zu fassen für die neue Lebensphase. Dass jemand sich das Lied zum 70. Geburtstag wünscht – anstelle großer Reden. Dass jemand den Mut hat, über die letzten Dinge zu sprechen und das Lied als Wunsch zur Beerdigung aufschreibt – wegen der Worte: „Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit.“

Da ist es dann mit Sicherheit auch legitim, in einem besonderen Jahr des Gedenkens der Geschichte von Brenndorf das mit einzubeziehen, was immer schon mit dazu gehörte – nicht nur seit der Reformation und nicht nur in Kriegszeiten, wenn man sich in die Kirchenburg zurückziehen musste: das Vertrauen „ein‘ feste Burg ist unser Gott“.

So wünsche ich uns aus dieser Rückbesinnung das Vertrauen in „neue Wege, auf die der Herr uns weist“…

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus. Amen.

Pfarrer Helmut Kramer