Neuen Sinn im Leben finden: Pfingstbotschaft von Pfarrer Helmut Kramer

Eine der bewegendsten Geschichten des Neuen Testaments ist die Geschichte der Emmausjünger. Zwei Jünger von Jesus, die von den Ereignissen um die Kreuzigung Jesu enttäuscht sind, kehren Jerusalem den Rücken. Die Stadt ist für sie zum Ort der Niederlage geworden. Nichts wie weg. Kleopas heißt der eine. Der Name des anderen ist nicht überliefert. Ein Film aus der Reihe Begegnung mit der Bibel" (Deutsche Bibelgesellschaft) gibt ihm den Namen Manasse. Sie gehen nach Emmaus, in ein Dorf, etwa zehn Kilometer von Jerusalem entfernt. Zwei Menschen verlassen das Trümmerfeld ihrer Erwartungen und Hoffnungen, den Ort, an dem ihre Zukunft begraben wurde. Nach Hause wollen sie, wieder zu ihren Familien; vielleicht wieder die Arbeit aufnehmen, der sie nachgingen, bevor sie Jesus begegnet waren. Es gibt nichts mehr zu hoffen. Es ist alles vorbei.

Den beiden Jüngern begegnet vor Emmaus ein unbekannter Mann, einer, der zuhört, nachfragt, zum Sprechen veranlasst. Und das ist schon was, denn im Verlauf des Gesprächs können die beiden ihr Herz ausschütten, ihre ganze Hoffnungslosigkeit zur Sprache bringen; ihren Kummer loswerden; und sie bekommen in dem, was der Fremde ihnen erzählt, eine Hilfe zum Verständnis dessen, was in Jerusalem geschah und geschieht. Da ist einer, der ihnen zuhört und ihre Gedanken behutsam lenkt; sie behutsam zu einer Einsicht bringt. Sie merken das zunächst gar nicht; erst hinterher wird ihnen das bewusst. Der Fremde legt ihnen die Bibel aus. Er führt sie weg von der Sicht auf ihre enttäuschenden Erfahrungen und öffnet ihnen die Augen und die Herzen; sie fassen Vertrauen. Als sie in Emmaus angekommen sind, laden sie ihn ein, ihr Gast zu sein. Und er nimmt an.

Und dann geschieht das Entscheidende: Anhand einer Geste erkennen sie ihn, so hat nur ihr Herr und Meister das Gebet gesprochen und das Brot gebrochen und geteilt. Jesus. In bewegenden Worten erzählt der Evangelist, wie die beiden Jünger den Auferstandenen erkennen und wie plötzlich alle Verzweiflung, alle Hoffnungslosigkeit, alle Ratlosigkeit verflogen sind. Plötzlich ist sie wieder da, die Erinnerung an den Mann ,mächtig in Taten und Worten‘; die Erinnerung an seine Worte, die Erinnerung an das letzte Mahl, die Erinnerung an seine Verheißungen. Und was sie erlebt haben, das können sie nicht für sich behalten, das müssen sie den anderen Jüngern weitersagen. So kehren sie nach Jerusalem zurück.

In dem erwähnten Film Begegnung mit der Bibel" gibt es zu dieser Geschichte eine ergreifende Schlussszene: Die Schwester des Kleopas, bei der die Jünger mit ihrem Gast eingekehrt waren, erkennt, dass die Begegnung mit dem Auferstandenen für sie etwas überwältigend Neues gebracht hat: Herr im Himmel. Jesus war in meinem Haus. Und ich habe gemeint, es sei alles vorbei. Aber es beginnt erst."

Eigentlich ist die Emmausgeschichte eine Ostergeschichte. Aber ohne das Geschehen von Pfingsten hätte es sie nie gegeben. Und diese Einsicht auch nicht: Ich habe gemeint, es sei alles vorbei, aber es beginnt erst." Ohne das Pfingsterlebnis wäre die Geschichte nie aufgeschrieben worden; hätte man nie erkannt: Es beginnt erst." Denn Gottes Herrlichkeit scheint in unserer Welt immer nur sporadisch auf. Sie lässt sich nicht festhalten, nicht konservieren, nicht instrumentalisieren, nicht verkaufen. Aber sie ist uneingeschränkt da. Sie kam nicht nur durch das Großereignis von Jerusalem, an das wir uns zu Pfingsten erinnern lassen. Aber das gab den Ausschlag zur Erkenntnis: Das Geheimnis und die Kraft der Auferstehung Jesu werden fassbar nur mit dem Herzen, im Glauben, im dankenden Erinnern an das, was war. Und Glauben hat Folgen. Er entfaltet eine starke Kraft. Es beginnt erst."

Für uns auch? Das kennen Sie doch: Da zerbricht eine Liebe und hinterlässt einen riesigen Scherbenhaufen. Da wird eine Karriere zerstört und Lebensperspektiven zerbrechen. Da kommt ein Unglück über uns und reißt uns den Boden unter den Füßen weg. Eine schleichende Krankheit frisst sich ein und macht unser Leben haltlos. Ein uns nahestehender Mensch stirbt, und wir stehen plötzlich da und fragen: Wofür lebst du eigentlich? Da kriselt es in der Familie und macht deutlich, wie weh das tun kann, wenn man Schritte aufeinander zu wagen müsste und jeder sagt: Soll doch der andere zuerst. Da setzt sich irgendwann die Frage nach nicht bewältigter Vergangenheit fest und sucht nach Dingen, die vielleicht zu leichtfertig aufgegeben wurden. Da sind wir irgendwann am Ende, haben das Gefühl, dass wir uns nur im Kreis drehen und keine Perspektive mehr sehen. Wir igeln uns ein. Oder wir flüchten.

Die Pfingstbotschaft aber sagt uns: An Lebensbrüchen welcher Art auch immer brauchen wir nicht mehr zerbrechen. Die Hoffnung, dass Gott auch unser Leben auf ein neues Fundament stellt, setzt die Suche nach Sinnfindung im Leben in ein ganz neues Licht. Erfolg ist nicht alles, und ein Karriereknick ist nicht gleich mit Untergang gleichzusetzen. Ich brauche mich nicht aufgeben, wenn eine Erkrankung in die Quere kommt. Ich darf den ersten Schritt wagen, wenn Hände zur Versöhnung, zum Frieden und zum Segen gereicht oder ausgestreckt werden sollen. Ich brauche in meinem Reden und Tun nicht verschweigen, wovon ich überzeugt bin und wofür ich brenne. Und ich brauche keine Angst mehr haben vor gar nichts, was mein Leben bedrängen oder gar bedrohen könnte. Denn die Worte des Paulus gelten auch mir, wenn er im Lichte des Glaubens an den auferstandenen Herrn schreibt: Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist unserem Herrn."

Es beginnt erst. Jedes Mal aufs Neue zu Pfingsten dürfen wir uns daran erinnern, dass Gott nicht von unserer Seite weicht. Ein gutes Gefühl weit mehr als nur ein Gefühl". Deswegen: ein frohes Pfingstfest.

Pfarrer Helmut Kramer