Gottes Kraft und Liebe

Eine Geschichte und ein Grußwort zum Pfingstfest

 

„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Tim 1,7)

 

  Dies ist die Geschichte von einem alten Mütterchen, das irgendwo, tief in der russischen Steppe, an ihrem Glauben an die Auferstehung festgehalten hat, gegen die Besserwisserei der anderen. Sie wohnte in einem kleinen Dorf, in dem eines Tages eine große Versammlung anberaumt war. Sie war neugierig, was da wohl los sein werde; und so machte sie sich auf zum Saal in der Dorfgaststätte. Ein Redner hielt dort einen Vortrag über das Ende des Christentums. Lautstark rief er aus: „Ich sage euch, dass es keine Auferstehung gibt. Und wenn ich Unrecht habe, dann soll mir Gott den Auferstandenen oder seinen Engel schicken, damit sie mir zum Beweis meines Unrechts auf der Stelle eine Ohrfeige geben.“ Im Saal war es mucksmäuschenstill geworden. Der Redner sah sich triumphierend um. Da erhob sich das alte Mütterchen schwerfällig, schlurfte die alten knarrenden Dielen entlang, baute sich vor dem Redner auf und sagte: „Der Auferstandene und sein Engel, die haben gewiss Besseres und Wichtigeres zu tun. Das hier kann auch ich erledigen.“ Und sie gab dem verdutzten Redner eine schallende Ohrfeige. Mit hochrotem Kopf verließ der fluchtartig den Saal. Das alte Mütterchen aber rief laut in den Saal: „Christus ist auferstanden.“ Und die Dorfleute im Saal antworteten: „Er ist wahrhaftig auferstanden.“

  Sie werden sagen: Das ist doch eine Ostergeschichte und keine Pfingstgeschichte. Und Sie haben Recht. Aber der Mut der ersten Christengemeinde aufgrund der Auferstehungsbotschaft wäre nicht möglich geworden und gewesen ohne die Ausgießung des Heiligen Geistes an Pfingsten. Und der Mut aller vielen Namenlosen der Kirchengeschichte auch nicht. Deswegen gehört beides zusammen: die Auferstehung und die Gabe des Heiligen Geistes, die den ersten Jüngern bestätigte: Fortan dürfen wir mutig von dem Sieg des Lebens über den Tod sprechen und die Auferstehung Jesu bezeugen.

  Das alte Mütterchen hatte Mut. Wir brauchen auch oft genug Mut in unserem Alltag. Wir erleben uns gegenwärtig in sehr widersprüchlichen Zusammenhängen und wir haben sehr gemischte Gefühle. Natürlich wollen wir das nicht vergessen: Es geht uns immer noch sehr gut. Aber irgendwie stecken wir in der Klemme: Die Wirtschaft stagniert; die Firmen wandern ab; ein Teil der jungen Generation will uns weismachen, dass Arbeit krank macht; der Krieg nimmt beunruhigende Ausmaße an; und viele fühlen sich durch die aktuelle Politik alleingelassen, verraten, ignoriert. Die gegenwärtige Situation kann Menschen tatsächlich in eine existentielle Krise treiben. Vor Jahren sagte mir jemand: „Es müsste uns wieder weitaus schlechter gehen, dann würden wir auch wieder die Kirchen aufsuchen. Nach dem Krieg war es doch auch so: Da füllten sich die Kirchen.“ Doch weit gefehlt, wie sich nun herausstellt. Religiöser, gläubiger werden die Menschen durch Krisen heute eher nicht, sagen auch Experten.

Darum brauchen wir das Pfingstfest: das Fest, das uns an Gottes Kraft und Gottes Liebe erinnert und das uns befähigen will, unseren Alltag mutig und besonnen zu bewältigen. Wir müssen das nicht allein schaffen. Gottes Geist ist uns zur Seite gestellt; er ist bei uns und er macht uns stark. So lädt uns Pfingsten ein, darüber nachzudenken, welche Sprache wir sprechen: die Sprache der Angst oder die der Liebe.

  Der Pfingstgeist hält Jesus unter uns lebendig. Es ist ein Geist, der Menschen verbindet und nicht trennt, der befreit und nicht einengt; ein Geist, der uns die Augen öffnet für Unrecht und uns den Mund auftut für die Wahrheit. Ein Geist, der aus dem Tod ins Leben ruft.

Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Pfingstfest.

Pfarrer Helmut Kramer