„Gottes Liebe, Gnade und Barmherzigkeit bringen uns neu zur Entfaltung“

Predigt von Pfarrer Helmut Kramer beim Brenndörfer Treffen

Pfarrer Helmut Kramer hielt den Festgottesdienst im Bürgerzentrum in Brackenheim.

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“. (Psalm 103,2)

Die Tür fällt mit einem lauten Knall ins Schloss. Bei Susanne dreht sich alles. Wie konnte das geschehen, fragt sie sich. Ich wollte doch alles richtig machen. Wir haben Regeln vereinbart, damit wir gut miteinander leben können. Meine Schwester und ich. Und jetzt haben die Regeln versagt. Wie das manchmal eben geht. Aus einem Impuls heraus hatte Susanne ihre Freundin Mathilde eingeladen und die Verabredung mit ihrer Schwester vergessen. Dabei hatten sie doch vereinbart, dass sie heute gemeinsam zum Grab der Mutter gehen. Immer denkst du nur an dich... Warum kannst du dich nicht an Absprachen halten...? Susanne hört noch die bitteren Vorwürfe ihrer Schwester. Dabei wollte sie einfach alles richtig machen. Und Mathilde hatte sie doch gebraucht.

Axel kann nicht schlafen. Seine Gedanken drehen sich um den Termin, der morgen auf ihn wartet. Präsentation vor der ganzen Abteilung. Er muss liefern, sonst ist sein Job in Gefahr. Er muss alle davon überzeugen, dass er das leisten kann, was alle von ihm erwarten. Es setzt ihn schrecklich unter Druck. Sein Kopf schmerzt, seine Schultern sind verspannt. Wie soll er das nur schaffen? Seine ganze Existenz hängt davon ab, dass das morgen gelingt. Wie kann er sich von diesem Druck freimachen, der ihm vorkommt, als ginge es um das ganze Leben?

Susanne und Axel – je auf ihre Weise versuchen sie, ihr Leben zu meistern, indem sie sich an Vereinbarungen und Erwartungen halten. Beide sind mir vertraut. Vereinbarungen, Regeln und Gesetze schützen das Zusammenleben von Menschen. Wenn es keine Regeln gibt, machen alle, was sie wollen. Und Regeln herrschen immer, auch wenn sie uns manchmal nicht bewusst sind. Wie bei Susanne und ihrer Schwester. In der Berufswelt gilt das Gesetz von Leistung und Anerkennung. Für Leistung werden wir bezahlt. Es gibt die Regel, dass Menschen liefern müssen, damit sie Anerkennung bekommen. So wie Axel.

Susanne und Axel stecken in mir drin. Wahrscheinlich in uns allen. Ich spüre den Druck, unter dem die beiden stehen: Durch Regeln versuche ich meine Beziehungen zu schützen, mir Vertrauen und Liebe zu erwerben. Wenn ich alles richtig mache, wird der oder die andere mich lieben. Und indem ich tue, was andere von mir erwarten, indem ich Leistung bringe, sichere ich mir Anerkennung und meine Existenz. Ich gewinne meine Identität.

Was aber, wenn Susannes Schwester nach dem Streit die Tür ins Schloss fallen lässt und den Kontakt abbricht? Oder wenn Axel die Präsentation nicht zufriedenstellend hinkriegt? Was bleibt dann übrig von der Liebe, vom Vertrauen, von der Identität?

Nicht nur mich treiben diese Fragen um, immer wieder. Sie zielen in den Kern unseres Glaubens, in den Kern des Evangeliums. Die Sprache hat sich verändert, aber die Fragen sind dieselben: Kann ich mir Liebe verdienen, indem ich das Gesetz befolge? Worauf gründet sich mein Leben, meine Identität? Muss ich alles richtig machen, damit ich geliebt werde? Werde ich anerkannt, wenn ich etwas leiste?

Schon in der ersten jungen Kirche hat man sich mit dieser Frage beschäftigt. Paulus, der scharfe Denker im Neuen Testament, wird nicht müde, in seinen Schriften immer wieder zu betonen, wie er es erfahren hat: Ich schaffe es nicht, mich an alles zu halten, was von mir erwartet wird. Ich bleibe, auch wenn ich mich noch so sehr bemühe, immer wieder hinter den Erwartungen zurück. Wenn ich 100 Mal alles richtig mache und dann einmal gegen ein Gebot verstoße, so wird aus einem treuen Menschen mit einem Mal ein Gesetzesübertreter. Ich kann ein Leben lang die Wahrheit sagen: Mit der ersten Lüge steht alles in Frage, und ich werde zum Lügner.

Ich schaffe es nicht, die Gebote und Vorschriften lückenlos einzuhalten. Niemand schafft das. Denn ich stehe mir immer wieder selbst im Weg. Auf dem Höhepunkt seiner Ausführungen schreibt Paulus in Röm 7: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes“? Rm 7,24

Heute würden wir es vermutlich anders formulieren als Paulus. Ich spüre: Immer wieder falle ich auf mich selbst herein. Immer wieder brechen die ungelösten Konflikte meiner Kindheit auf und treiben mich zu Handlungen oder Worten, die ich besser unterlassen hätte. Immer wieder bin ich in mir selbst gefangen und von meiner Angst um mich selbst bestimmt und gesteuert. Immer wieder treibt mich die Suche nach Anerkennung dazu, andere zu instrumentalisieren. Ich schaffe es nicht, obwohl ich alles richtig machen will. So wie Susanne. Und ich spüre, dass mir Leistung keine nachhaltige Anerkennung bringt. So wie Axel. So wie auch Martin Luther, der sich zunächst abmühte und quälte, damit er sich Gottes Liebe und Gnade verdiente. Und der ebenso wie Paulus die Erfahrung machte: Ich schaffe es nicht, durch Gebotsbefolgung und Leistung die Gnade und Liebe Gottes zu verdienen, geschweige denn sie zu erfahren. 

Und Gott selber spricht in diese immer wieder schmerzhafte Erfahrung hinein: Du schaffst es nicht. Aber du musst es auch nicht schaffen. Denn ich, dein Gott, komme dir ganz nahe. Näher als du dir selbst nahe zu kommen vermagst. Aus lauter Liebe. Und es ist Paulus, der gerade in dieser ganz prägenden Frage wieder die Brücke schlägt zum Alten Testament und auf Worte verweist, wie im Wochenspruch, denn in diesem Psalm steht noch: „Vergiss nicht, was Gott dir Gutes getan hat: Der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit.“

Meine Identität, also das, worauf sich mein Leben gründet, beruht also nicht auf dem, was ich tue oder nicht tue. Sie beruht darauf, dass Gott mich liebt, ohne Bedingung. Und dass er mir seine Gnade schenkt. In Christus, seinem Sohn. Als Martin Luther das entdeckte, da war das wie ein Neubeginn, wie ein neues Aufblühen.

Gruppenbild mit Thomas Csaszar, neuer Bürgermeister der Stadt Brackenheim (3. von links), von links: Pfarrer Helmut Kramer, Manfred Copony, Siegbert Bruss, Dr. Horst Müller und Hugo Thiess. Fotos: Petra Reiner

Und Susanne und Axel? Regeln können gebrochen werden, und es geschieht immer wieder. Das tut weh. Was Susanne und ihrer Schwester helfen wird, ist die Vergebung. Manchmal ist es kompliziert. Dann ist der Weg zur Vergebung länger und braucht viel Zeit. Aber irgendwann beginnen Liebe und Vertrauen wieder zu fließen. Und Axel spürt vielleicht, dass sein Leben nicht von dem abhängt, was er tut, wenn er nicht mehr ständig um sich selbst und um das kreist, was er kann und schafft.

Vielleicht ist ja gerade dies das wahre Geheimnis, das sich in dem Satz versteckt: Vergiss nicht, was Gott dir Gutes tut, getan hat. Vergiss nicht, dass er sich gnädig und freundlich denen zuwendet, die alles von ihm erwarten und sich das Wesentliche im Leben nicht selbst schaffen wollen.

Wenn wir, wie der Psalm betont, gekrönt sind mit Gnade und Barmherzigkeit, dann ist das wie eine neue Impulswelle, wie ein neues Aufblühen.  Gottes Liebe, Gnade und Barmherzigkeit bringen uns neu zur Entfaltung. Und das kommt auch den anderen zugute; und das brauchen wir: im allgemeinen Lamento unserer Zeit brauchen wir Menschen, die entdecken: Ich werde gebraucht; Gottes Liebe, Gnade und Barmherzigkeit bewegen und verändern auch mich; und erst dadurch verändert sich etwas.

Und schließlich: Vergiss nicht, was Gott dir Gutes getan hat. Die Theologin Dorothee Sölle hat es einmal als geistliche Übung bezeichnet, am Tag drei Dinge zu finden, für die sie Gott danken kann. Drei Dinge sind manchmal ganz leicht – an anderen Tagen fällt es sogar schwer, einen einzigen Grund zum Danken zu finden. Probieren Sie es doch einmal aus!  

Es ginge auch so, wie bei dem Bauern, der ständig unzufrieden war. Nichts war ihm recht, nichts konnte man ihm recht machen. Ständig war er am Nörgeln. Eines Tages riet ihm jemand, eine Handvoll Kieselsteine in die rechte Jackentasche zu stecken und in jedem glücklichen Moment einen Stein von rechts nach links wandern zu lassen. Waren es zu Beginn selten mehr als zwei Steine, fanden mit der Zeit mehr und mehr Steine ihren Weg in die linke Tasche. Irgendwann entwickelte der Bauer ein Ritual und zählte seine Steine, dachte an die schönen Momente und freute sich daran. Bis er eines Tages zu seinem Ratgeber kam und sagte: „Weißt du, eigentlich bin ich ein glücklicher Mensch.“

Eigentlich sind wir alle glückliche Menschen.

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus. Amen.

Pfarrer Helmut Kramer