Die Geschichte beginnt erst

Pfingstbotschaft von Pfarrer Helmut Kramer

„Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der HERR Zebaoth“.  (Sacharja 4,6)

Wir sind am Ende. Mit unserem Latein. Über Wachstum und Wohlstand. Über Kriegsführung und Kriegstaktik. Über Sanktionen und Verhandlungsgeschick. Über Globalisierung und Diplomatie.

Die Bilder der Gräueltaten im Krieg in der Ukraine sind kaum auszuhalten. Und jeden Tag kommen mehr Grausamkeiten zum Vorschein. Vom ersten Tag an schreibt der Begriff „Kriegsverbrechen“ seine schauerliche Geschichte. Dabei ist allein schon der Begriff ein Widerspruch in sich: Es gibt keinen Krieg ohne Verbrechen. Es gibt keinen „sauberen“ Krieg, der eine „Operation an sich“ rechtfertigt, wie immer diese auch umschrieben werden mag. Jeder Krieg zwingt dem Schwächeren das Recht des Stärkeren auf. Und deswegen kann es auch keine „neutralen“ Beobachter geben. Das macht die Sache so kompliziert, dass alle Außenstehenden stärker am Gesamtgeschehen beteiligt sind, als ihnen bewusst und lieb ist, dass sie in ihren Abhängigkeiten und ihrem Verhalten so befangen sind, dass nicht einmal mehr die Einsicht bleibt, wie sehr wir alle „am Ende“ sind.

Als einer, der 15 Jahre nach Kriegsende geboren ist, bin ich doch mit den Erzählungen der Alten aufgewachsen. Im strengen Winter im russischen Arbeitslager konnten die Menschen wegen des klirrenden Frostes ihre Toten nicht begraben und stapelten die Leichen hinter den Baracken. Die Bilder brannten sich ein in eine Kinderseele, für die „Krieg“ zum Unwort wurde. Und später fiel dies Wort oft genug in Gesprächen mit jenen, die ihre Traumata – als Opfer oder als Mitläufer und Täter – bis ins hohe Alter nicht überwunden hatten. Heute ist es wieder da in den Gesprächen mit den ehemaligen Kindern des letzten Weltkrieges, deren längst geheilt geglaubte Wunden plötzlich wieder aufbrechen. Welches unfassbare Leid muss es da unter den Opfern in der Ukraine geben?

Es gibt keine Rechtfertigung für Krieg. Selbst die Schlussfolgerung von Militärstrategen, gegen einen militärischen Konflikt gäbe es nur eine militärische Lösung, lässt bestenfalls ahnen, dass die Eskalationsspirale nach oben offen ist. Und das macht die Einsicht so unumkehrbar: Wir sind am Ende. Mit unserem Latein.

In diesen Tagen ist mir das Friedensgebet wieder wichtig geworden. Es macht mir deutlich, dass wir noch etwas tun können, auch wenn wir meinen, wir wären am Ende. Und so stellt sich nicht zum ersten Mal in den letzten zwei Jahren die Frage: Was trauen wir Gott mit unseren Gebeten (noch) zu?

„Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der HERR Zebaoth.“ Diese Worte stehen alljährlich über dem Pfingstfest. Sie stammen aus einer Zeit, in der es ähnlich ratlos zuging, mit der Einsicht im Hintergrund: Wir sind am Ende. Nach 70 Jahren Deportation und Rückkehr in die zerstörte Heimat sollen die Menschen wieder Fuß fassen und neu aufbauen. „Unmöglich“ sagen die einen. „Wir sind am Ende“. „Hört genau hin“, sagen die anderen: „Da will uns jemand Mut machen, der weitersieht als nur um die nächste Wegbiegung. Der immer schon an unserer Seite war. Dem wir gerade jetzt etwas zutrauen dürfen und sollten“.

Nicht von ungefähr sind gerade diese Worte zum Motto von Pfingsten geworden.

In einer Zeit, als die Jünger sich trotz Auferstehung und Himmelfahrt von ihrem Herrn und Meister alleingelassen fühlten, bedurfte es der Kraft des Heiligen Geistes, um ihnen die Augen zu öffnen für die Erkenntnis: Wir sind noch nicht am Ende. Die „Geschichte“ um den Auferstandenen beginnt erst.

„Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der HERR.“ Ein Wort auch für unsere Zeit. Gerade für sie. Wenn wir mit unserem Latein am Ende sind. Weil Gott uns ausrichten lässt, worauf es wirklich ankommt. Und deswegen noch einmal: Was trauen wir ihm mit unseren Gebeten (noch) zu?

Ich grüße Sie in der Verbundenheit des gemeinsamen Vertrauens, dass unsere Hoffnung in Gott gegründet bleibt.

Pfarrer Helmut Kramer